Bevor ich neue Berichte meiner Weiterreise durch Italien ohne Levin verfasse, möchte ich noch von unserer ersten Etappe berichten. Denn hier begann unsere Reise: An der toskanischen Küste. In der Wohnung meines Cousins in Camaiore.
Camaiore erreichten wir nach zwei Tagen. Am San Bernardino überliessen wir das Regenwetter der Nordschweiz, fuhren dem Lago Maggiore entlang, wichen an einem Sonntag Turin aus – ohne Lastwagen – und erreichten die Meeresküste von Toskana im Abendlicht. Die Wohnung meines Cousins – grosszügig, schön und bequem – war ein Geschenk: Sie bot uns genau das, was wir brauchten. Zeit zum Ankommen, zum Einleben und zum gemeinsamen Kochen.
Die Zufahrt hinauf vom alten Teil von Camaiore in die Wohnung ist nichts für schwache Nerven – enge Gassen, scharfkantige Mauern, steile Kurven und lokaler Gegenverkehr, der sich keinen Zentimeter schenkt – typisch Italien. Anfänglich vorsichtig kroch ich den Hang hinauf, doch nach wenigen Kurven passte ich mich an: zügig und zentimetergenau. Ich begann die Verkehrsgepflogenheiten zu verstehen.
Möglichst elegant, platzsparend, ohne Beachtung von Geschwindigkeitstafeln sause ich über die zum Teil üblen Strassen, weiche vorsichtig allen Schlaglöchern aus und schwenke im Kreisel – ohne den Blinker zu setzen – in die passende Ausfahrt aus. So macht Autofahren Spass.
Carrara – Der Marmorsteinbruch
Die Fahrt hinauf in die Berge von Carrara war eindrucksvoll. In engen Serpentinen schlängelten wir uns immer höher, blickten hinunter auf das Städtchen, dann in tiefe Schluchten, und wieder hinauf zu den weissen, scheinbar verschneiten Felswänden. Es war staubig, Lastwagen kreuzten uns in engen Kurven. Doch was da glänzte, war kein Schnee, sondern Marmor – der berühmte weisse Stein, der seit der Römerzeit hier gebrochen wird.
Levin und ich, mit Peppina an der Leine, besuchten die Cava di Fantiscritti, eine der wenigen unterirdischen Abbaustellen in der Region. Fast alle der rund 150 Steinbrüche rund um Carrara sind offen angelegt – wie riesige, im Halbkreis in den Berg geschnittene Terrassen, die an monumentale Steintreppen erinnern. Doch wir fuhren im Geländewagen in einen kühl-feuchten Stollen, tief hinein in den Berg.




Plötzlich öffnete sich eine monumentale Halle. In gedämpftem Licht standen mächtige, gelbe Maschinen – rau, ölverschmiert und bereit zur Arbeit. Zwischen ihnen lagen gewaltige Blöcke aus Carrara-Marmor: 26 Tonnen schwer, manche noch mehr.
Unsere Führerin, in Deutschland geboren, aber mit familiären Wurzeln in der Fantiscritti-Dynastie, vermittelte nicht nur präzises Wissen, sondern auch persönliche Geschichten – vom Alltag der Arbeiter, vom Wandel des Handwerks, von der tiefen Verbindung zwischen Mensch und Stein. Levin war fasziniert – besonders, als sie genau erklärte, wie der Marmor aus dem Fels geschnitten wird und dass einzelne Blöcke bis zu 40 Tonnen wiegen. Levin beschrieb den Abbau später so:
„Die Männer bohren mit einer Maschine zwei Löcher in den Felsen. Mit einer speziellen Säge fräsen sie unten durch, bis der Stein lose ist. Dann wird er mit einem Stahlseil gesägt, das mit Diamantpartikeln besetzt ist und sich mit 150 km/h im Kreis dreht. Würde ein 27-Tonnen-Block einfach auf den Boden fallen, könnte man ihn nicht mehr bewegen. Darum lässt man ihn auf einen Haufen Sand und Geröll fallen – so kann ihn ein Gabelstapler leichter anheben und auf einen Lastwagen verladen.“
Im Innern des Berges war es kühl, der Lärm gedämpft, die Atmosphäre fast ehrfürchtig. Und als wir wieder hinaustraten, blendete uns das Licht: weiss, grell, staubig – Marmor, soweit das Auge reichte.
Die Erzählung über ein Kunstwerk, das genau hier in diesem Stollen herausgeholt wurde, faszinierte mich besonders. Die monumentale Skulptur „Tuor per Susch“ von Not Vital, eine zehn Meter hohe Stele, wurde aus einem einzigen Marmorblock gehauen. Die Vorstellung, wie dieser lange, schwere Block zuerst durch den schmalen Stollen und danach über die steilen, engen Kurven hinunter ins Tal transportiert wurde, ist besonders beeindruckend – umso mehr, wenn man genau an diesem Ort steht.
TUOR PER SUSCH“, 2020, VON NOT VITAL steht neben dem romanischen Kirchturm (Bilder im Internet, sie sind urhebergeschützt und deshalb kann ich sie nicht rauskopieren)
Bei nächster Gelegenheit will ich nach Susch – um dort, hoch oben im Engadin, den Stein wiederzusehen, den ich tief unten im Berg von Carrara zum ersten Mal berührt habe. Aber vorerst wollten wir noch einen anderen Turm besuchen: den schiefen Turm von Pisa.
Pisa – Der Platz der Wunder
Ich war nicht zum ersten Mal hier. Und doch ist es jedes Mal ergreifend. Die Weite des Platzes „dei Miracoli“ – ein Ort des Wunders mit dem Baptisterium, dem weissen Dom, den grünen Wiesen dazwischen und eben diesem aus Carrara-Marmor gebauten Turm.
Ich kenne diesen Ort noch aus einer Zeit, als der Turm gefährlich schief stand, die Stufen steil und es ungesicherte Ausblicke in die Tiefe gab. Damals stieg man mit einem mulmigen Gefühl hinauf – und mit Ehrfurcht. 1990 wurde der Turm geschlossen, die Neigung war zu bedrohlich geworden. Nach aufwändigen Sicherungsarbeiten wurde er 2001 wieder geöffnet – leicht begradigt, aber noch immer schief genug, um zu staunen.
So erlebte Levin seine erste Besteigung. Und so beschrieb er sie später:
Da stand er. Verdammt schief – aber eine sehr schöne Architektur. Der Schiefe Turm von Pisa. Und er war hoch. Viel höher, als ich gedacht habe.
Unten am Turm standen Leute in einer Reihe an, mit der gleichen Absicht wie wir: Alle wollten auf den Turm. Wir schnappten uns die Tickets, versorgten die Tasche im Schliessfach und hängten uns an die Reihe an. Nach einem kurzen Sicherheitscheck konnten wir in den Turm.
Der Turm ist aus weissem Carrara-Marmor gebaut. Da er im Sumpf gebaut wurde und so schwer ist, sank er anderthalb Stockwerke ein. Daher kommt das schräge Dasein.
Der Baumeister wollte das auskorrigieren und baute ihn oben wieder gerade. Jetzt sieht der Turm aus wie eine Banane aus Marmor.“





Und dann plagte Levin wieder einmal der Hunger. Wir verschlangen die absolut tollsten Sandwiches aus der lustigen Bar im Botanischen Garten von Pisa. Pure Erholung.



Zum Schluss kam das grosse Ausklingen am Meer.
